Nur eine Schneeflocke
von Lea Gotzner
Es gibt eine Zeit, in der ich nicht existiere.
Eine Zeit, in welcher ich nicht mehr als eine kleine unbedeutende Schneeflocke bin, an die sich niemals jemand erinnern wird.
Aber das macht mir nichts aus.
Der Gedanke, ein unwichtiges Leben zu führen, das keiner Seele jemals durch den Kopf gehen wird stimmt mich sogar glücklich.
Und wenn ich dann durch die Straßen gehe in denen ich nicht existiere, bemerke ich wie die Freude jede Faser meines Körpers für sich einnimmt.
In dem Leben, in dem ich nicht bestehe gibt es nichts, dass mich ernüchtern könnte.
Denn wenn ich so zum Himmel sehe und an diese Zeit zurückdenke, bereue ich nicht eine einzige Sekunde.
An dem Ort, an dem ich nicht existiere, möchte ich keine meiner unendlichen Tränen ungeschehen machen.
Nichts hat mich gesehen, nichts hats mich gehört.
Aber das macht es umso mehr besonders, und einzigartig.
Woran ich wohl dachte, als ich stundenlang aus dem kleinen Fenster starrte?
Wahrscheinlich an die weiße Watte, die in sekundenschnelle vom Himmel fiel und sich auf die kahlen Äste der Laubbäume und das braune Gras niederließ.
Schon immer hatte ich den kühlen Flocken nachgesehen, wenn sie langsam zu Boden glitten, und währenddessen daran gedacht, dass sich niemand jemals an sie erinnern würde.
Ich war genauso.
Ich tauchte in die Menge ab, obwohl ich gesehen werden wollte.
Mein Mund schwieg, wenn ich etwas mitzuteilen versuchte.
Und meine Beine standen still trotz meines Wunsches zu rennen.
Nur meine Augen beobachteten immer.
Sie betrachteten die Regentropfen, wenn diese erbarmungslos auf den Boden prasselten,
schauten den Blättern nach, die durch jede noch so kleine Böe umhergewirbelt wurden
und sahen der Sonne entgegen, wenn sie sich hinter den Wolken versteckte.
Doch das würde nie jemand wissen.
Nur der Mensch, den es nie gegeben hat, wird es sich in Erinnerung behalten.
Der Mensch, der nicht mehr war als eine belanglose Schneeflocke.
Es gibt eine Zeit, in der ich existiere.
Eine Zeit, in welcher ich am Rande des Abgrunds sitze und den klaren Nachthimmel über mir bewundere.
Jeder Stern, der hell leuchtend vor meiner Nase tanzt, ist vergänglich.
Dennoch, selbst wenn sie verschwinden, erinnert man sich an sie, denn sie sind besonders.
Bin ich wirklich glücklich als Schneeflocke?
Wäre ich nicht viel lieber ein Stern?
Wenn ich dann durch die Straße gehe, in der ich existiere, weiß jede Seele wer ich bin,
jeder sieht mir nach und bewundert mich, obwohl ich nur an ihnen vorbeilaufe.
Macht es mir wirklich nichts aus nur eine unbedeutende Flocke zu sein, wenn ich doch ein strahlender Punkt am Nachthimmel sein könnte?
Mein Kopf wendet sich nach unten und blickt der tiefen Schwärze entgegen.
Wenn ich springe, bin ich dann ein Stern, oder weiterhin nur eine Schneeflocke?
Tue ich es in der Hoffnung nachts den Menschen Licht zu spenden?
Oder tue ich es, nur um unbemerkt auf den Boden zu fallen?
Gehe ich das Risiko ein, um zu existieren?
Ja.
Es gibt eine Zeit, in der ich nicht existiere.
Eine Zeit, in der ich nicht mehr bin als eine unbedeutende Schneeflocke.